Zukunft des Kinos
Von Sheri Hagen
Die Zukunft des Kinos sollte für Groß und Klein Räume und Welten öffnen und nicht schließen. Die unterschiedlichste Lebensrealitäten, unterschiedlichste Menschen, Kulturen und Gesellschaften, in ihren vielfältigen Erzählformen und Ästhetiken, widerspiegeln. Unsere Synapsen wachsen lassen, uns zum Lachen, Weinen, oder zum Schreien bringen.
Ich möchte Filme wie SIDEWALK STORIES von Charles Lane, oder LA PIROGUE von Moussa Touré, I AM NOT A WITCH von Rungano Nyoni, oder KARE KARE ZVAKO – MOTHER’S DAY von Tsitsi Dangarembga, MOTHER OF GEORGE von Andrew Dosunmu, HAIR LOVE von Matthew A. Cherry oder DIE WÜTENDEN – LES MISÉRABLES von Ladj Ly nicht missen. Mutige Filme, die mich durch ihre Kreativität fasziniert, meinen Blick vertieft, mein Gehör verfeinert und mich zum Nachdenken angeregt haben. Es sind auch Filme, die mich repräsentierten oder Kinder und junge Menschen, die aussehen wie ich. Einfach mutige und ungewöhnliche Geschichten, die berühren und Schwarze Menschen selbstverständlich in die Zentren ihrer Geschichten gestellt haben.
Um Schwarze Menschen selbstverständlich im Kino zu sehen, subversiv erzählt und im Fokus ihrer eigenen Geschichten, muss ich den deutschen Raum verlassen. Obwohl Schwarze Menschen lange Teil der deutschen Geschichte sind, fehlen sie noch immer im deutschen Film und in den deutschen Kinos. Die deutsche Filmkultur zeigt deutlich, wer in der Gesellschaft repräsentiert wird und wer nicht. Wessen Geschichten wir sehen und erfahren und wessen nicht. Die Vielfalt, die ich in der deutschen Realität sehe, existiert nicht im deutschen Film und in den deutschen Kinos. Es fehlen die Stimmen der Unterrepräsentierten und die Stimmen deren Kinder. Kinder- und Jugendfilme für unterrepräsentierte, junge Stimmen.
Die Zukunft des Kinos sollte vielfältige, deutsche Filme widerspiegeln, die die Geschichten einer inklusiven und vielfältigen Gesellschaft erzählen und die Talente aller nutzen. Die Zukunft des Kinos sollte eine filmische Unterbrechung des Alltags für klein, groß, dick, dünn, Weiß, Schwarz, Grau, jung, alt, behindert und nicht behindert sein. Filmische Unterbrechungen, die einladen, unterhalten, vertiefen und Brücken in andere Welten bauen, ungewohnte Formen und Erzähl-Strukturen aufzeigen, statt zu separieren, einzuengen und auszuschließen. Die Sichtbarkeit vielfältiger Geschichten mit ungewöhnlichen Erzählformen und Ästhetiken braucht die Zukunft des Kinos. Wir sollten aufhören, immer nur eine einzige Geschichte zu erzählen, so sagt die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Adichie in ihrem Tedtalk The danger of a single story[1]eindrucksvoll.
Menschlichkeit und Würde werden nicht geraubt, Identifikation, Motivation und Vorbild sind für alle somit möglich. Räume in den Köpfen öffnen, durch die selbstverständliche, alltägliche Sichtbarkeit aller Lebensrealitäten und aller Filmkunstformen. Filmkultur und Bildungswesen dürfen keine Nischen sein. Filmkultur sollte für alle Menschen in der Gesellschaft zugänglich sein, um einen Zusammenhalt und ein Zusammenleben zu ermöglichen. Jede*r sollte sich in Filmkultur und Bildungswesen widergespiegelt sehen, jede*r sollte zählen. Die Zukunft des Kinos sollte keine Unterbrechung der Ablehnung, der Barriere, der rassistischen, sexistischen, oder diskriminierende Attacke sein. Sondern eine Unterbrechung der Freude, der Neugierde, des Wechsels, der Wissbegierde und der Humanität.
Der Wandel der Gesellschaft hat längst stattgefunden. Ein Festhalten an tradierten Strukturen ist nicht mehr möglich und ist deswegen weder hilfreich noch förderlich. Stagnation ist keine Option. Die Welt ist längst im Wandel und bewegt sich schneller als manche es wahrhaben wollen. Die dynamische Veränderung der Gesellschaft muss in der Zukunft des deutschen Films und in den Kinos widergespiegelt werden, fest verankert werden. Bildungssysteme und Filmkultur sollten die Vielfalt und Nöte unserer Gesellschaft reflektieren. Alle Positionen müssen für alle zugänglich sein. Filmbildung und Filmkultur darf kein Nischenprogramm sein, das nur bestimmte Menschen zulässt, fördert und sich entfalten lässt. Die Zukunft des Kinos sollte mutig, innovativ und progressiv in Bewegung bleiben.
Meine Vision: der Mensch ist komplex und sehr vielfältig. Ich sehne mich danach diese Komplexität, diese Differenzen, ohne zu bewerten, im Film und im Kino zu sehen. Jede*r möchte im Kino und im Film gesehen und gehört werden. Zumindest seinen Zustand, Träume oder Sehnsüchte widergespiegelt sehen. Um das zu ermöglichen, brauchen wir mutige Geschichtenerzähler*innen und mutige Programmierer*innen, sowie diverse Räume, in denen diverse Geschichten und Erzählstrukturen auf intersektionaler Basis möglich sind. Die Zukunft des Kinos sollte Begegnungsstätte sein, in denen Filme genossen werden und diverse Menschen in einen Dialog miteinander treten, ein Diskurs entstehen kann, der zum Nachdenken anregt.
Nach dem Motto der Niederländer – Kijken is Kunst. Die Zukunft des Kinos sollte Kunst für alle möglich machen, selbstverständlich auch Unterrepräsentierte und deren Kinder involvieren, fördern und fordern. Learning by viewing, wie Alfred Holighaus schrieb, oder Geena Davis: If she can see it, she can be it! Let us all be seen and be it, sage ich. Filme wie BLACK PANTHER von Ryan Coogler, MOONLIGHT von Barry Jenkins, oder ATLANTIC von Mati Diop sollten auch in der Zukunft des deutschen Films und Kinos möglich sein. Die Zukunft des Kinos sollte Safe Space, Mut, Innovation und Genuss für alle sein.
Sheri Hagen
Sheri Hagen - Regisseurin und Schauspielerin aus Berlin. Neben zahlreichen Arbeiten für Film und Fernsehen wirkte sie in verschiedenen Theaterproduktionen mit. Als Drehbuchautorin und Regisseurin trat sie 2007 erstmals mit dem Kurzfilm STELLA UND DIE STÖRCHE in Erscheinung. 2010 folgte ihr Spielfilmdebüt AUF DEN ZWEITEN BLICK. 2015 gründete Sheri Hagen die Produktionsfirma Equality Film GmbH, die sich darauf konzentriert besondere Geschichten zu erzählen, die die vielfältigen Lebensrealitäten der deutschen Gesellschaft widerspiegeln. In ihrem zweiten Spielfilm FENSTER BLAU (2016) adaptierte Sheri Hagen das Theaterstück - MUTTERMALE FENSTER BLAU von Sasha Marianna Salzmann. Sheri Hagen bereitet derzeit die Spielfilme BILLIE und MOTHERHOOD vor. In der Entwicklung ist die Serie KEHINDE und der Kurzfilm AUF WIEDERSEHEN.