Thomas Hailer: Die Zukunft des Kinos

Als Kurator von Filmprogrammen bin ich immer wieder begeistert über die Rückmeldung von Lehrer*innen nach ihrem Besuch einer Festivalvorführung. Sie berichten regelmäßig, dass Schüler*innen, denen sie im Vorfeld kaum ein Interesse an Filmen jenseits des Mainstreams zugetraut hätten, überraschende Offenheit für die inhaltlich und formal besonderen Festivalfilme zeigen. Äußerungen wie „Ich wusste ja gar nicht, dass es solche Filme auch gibt“ oder „So einen Film würde ich mir glatt nochmal anschauen“ sind keine Seltenheit. Solche positiven Reaktionen mögen unter anderem darauf zurückzuführen sein, dass hier eine neue Kinoerfahrung stattfindet, nämlich eine andere Art der Identifikation. Die Kinder und Jugendlichen schauen nicht zu Leinwandheld*innen mit Superkräften auf, vielmehr begegnen sie Gleichaltrigen auf Augenhöhe. Plötzlich sehen sie Geschichten, die vor der eigenen Haustür stattfinden könnten. Oder sie lernen andere Realitäten kennen, zum Beispiel, wie es ist, wenn man in einer abgeschiedenen Gegend der Welt groß wird und Schafe hütet, statt zur Schule zu gehen …

Es ist eine besondere Qualität von Festivalfilmen, dass sie ihr junges Publikum thematisch in seiner jeweiligen Lebenswirklichkeit abholen. Oder eben in andere Lebenswirklichkeiten mitnehmen. Doch es geht nicht nur darum, was erzählt wird, sondern auch darum, wie es erzählt wird. Die Schüler*innen sehen sich mit einer Dramaturgie konfrontiert, die eine andere Aufmerksamkeit erfordert, und erleben andere Formen des Geschichtenerzählens. Wer einmal die konzentrierte Spannung, die besondere Atmosphäre während einer Festivalvorführung für junges Publikum live miterlebt hat, weiß, zu welch einem eindrücklichen Erlebnis Kino werden kann. Umso mehr, wenn das Gemeinschaftserlebnis durch Publikumsgespräche im Kino oder Vor- bzw. Nachbereitungsgespräche im Klassenzimmer vertieft wird. Dabei können Erfahrungen ausgetauscht, die Geschichten auf der Leinwand mit persönlichen Erlebnissen verbunden werden. Die Schüler*innen sehen, dass es anderen genauso geht wie ihnen. Dass sie mit ihren Problemen nicht alleine sind, und wie sich andere aus ihren Nöten befreien. Schlussendlich werden auch die Sinne für die Machart der Filme geschärft. Gerade hier kann das junge Publikum oft praxisnah angesprochen werden, denn die meisten Schüler*innen haben sicher schon den einen oder anderen Film mit dem Handy gedreht und selbst geschnitten.

An alle diese Erfahrungen knüpft das neue Schulkinoprojekt der Nordischen Filmtage Lübeck an, mit dem wir das Interesse junger Menschen fürs Kino auch außerhalb des Festivals wecken wollen. Unter dem Arbeitstitel „NFLplus“ erweitern wir unser klassisches Festivalangebot um ein ganzjähriges Beteiligungsformat für Schulen, bei dem Filmkunst in all ihren Facetten präsentiert, unterhaltsam vermittelt und zugänglich gemacht werden soll. Wir wollen damit einen nachhaltigen Beitrag zu Filmbildung und gelebter Kinokultur leisten.

Insgesamt sollen 50 Filme für Kinder und Jugendliche aus früheren NFL-Festivalprogrammen ausgewählt und über die nächsten zwei Jahre gezeigt werden. Wir können dabei zunächst auf das nichtgewerbliche Angebot des Bundesverbands Jugend und Film zurückgreifen. Zu dieser Auswahl erstellen wir einen Katalog mit konkreten Vorschlägen zur Filmvermittlung im schulischen Kontext. Interessierte Lehrer*innen können für ihre Klassen Filmvorführungen in Lübecker Kinos direkt bei uns buchen. Auf einer dazugehörigen Website finden sie weitere Informationen, die sie für die Einbettung in den Unterricht und die Erhöhung der Erlebnisqualität nutzen können: medienpädagogisches Begleitmaterial, Erfahrungsberichte von anderen Lehrer*innen und, falls vorhanden, Aufzeichnungen von Publikumsgesprächen mit den Filmschaffenden beim Festival.

Die Pilotphase mit einem Angebot von zunächst 15 Filmen und einer kleinen Gruppe teilnehmender Schulen läuft bereits seit Januar 2022. Die weitere Auswahl soll praxisnah getroffen werden, das heißt wir wollen uns am konkreten Bedarf von Lehrer*innen und/oder Schulklassen orientieren.

Perspektivisch bietet diese Plattform auch die Chance, die Vernetzung der Nordischen Filmtage mit den Lübecker Kinos auf Filmclubs, Jugendzentren und weitere Kulturorte wie Bibliotheken, Museen und Stadtteilzentren auszuweiten. Und wenn Reisen wieder eine normale Sache ist, soll NFLplus auch die Plattform für eine über die Stadt hinausgehende Vernetzung des Festivals sein. Hier kann an bereits bestehende internationale Kooperationen mit vergleichbaren partizipativen Projekten angeknüpft werden.

Festivals tragen Mitverantwortung für die Zukunft des Kinos und können viel dazu beitragen, dass volle Säle und magische Momente im Dunklen auch nach Corona Teil unserer Kultur sind.

Thomas Hailer

Thomas Hailer ist Künstlerischer Leiter der Nordischen Filmtage Lübeck, Mitglied der Studienleitung der Akademie für Kindermedien und Script Editor beim Jerusalem Sam Spiegel Film Lab

 

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