Gerd Hallenberger: Die Zukunft des Kinos...
In der Regel verdrängen neue technische Medien ältere nicht einfach, sondern das Medienensemble verändert sich insgesamt – so wie sich ein Planetensystem ein neues Gleichgewicht schafft, in das – ein hypothetisches Beispiel – ein neuer Himmelskörper eindringt und sich eine stabile Bahn erobert und damit alle anderen Planeten auf einen neuen Kurs zwingt.
In der Mediengeschichte gab es für diesen Umstand schon viele Beispiele, das bekannteste: Mit der wachsenden Verbreitung des Fernsehens musste sich der Kinofilm, der bis zu diesem Zeitpunkt ein Monopol auf audiovisuelle Unterhaltungsangebote hatte, eine Nische suchen, in die das Fernsehen nicht eindringen konnte. Drei Argumente sprachen weiterhin für den Kinofilm: Erstens war die Erlebnisqualität unvergleichlich größer und wurde im Laufe der Zeit durch CinemaScope, Dolby Surround etc. systematisch ausgebaut. Zweitens konnte – zumindest in den ersten Jahrzehnten – nur das Kino mit grenzenloser Starpower auftrumpfen. Drittens war das Fernsehen lange Zeit zwangsläufig „Familienmedium“ und durfte daher bestimmte Inhalte gar nicht zeigen – wie etwa Sex und Gewalt.
Heute muss sich der Kinofilm mit dem gleichen medialen Kontrahenten auseinandersetzen wie das Fernsehen und viele andere Medien, nämlich der Digitalisierung oder genauer: der Dominanz und Ubiquität nicht mehr „gebundener“ Angebote. Egal ob es um die Bindung an Rezeptionsorte (wie z.B. Kinos), die Bindung an klassische „Medien“ (wie z.B. das Fernsehen) oder die Bindung an physische Träger (wie z.B. CD oder DVD) geht, heute ist alles potenziell immer und überall, was alle diese Bindungen bedroht. Ein Überleben ist nur dadurch möglich, dass die Stärken, die mit der Schwäche der Bindung einhergehen, ausgespielt werden. Erstes Beispiel – Musik: Dank Spotify und Co. ist zwar jede Musik immer verfügbar, aber physische Träger – interessanterweise eher Vinyl als CD – können einen besonderen Mehrwert bieten, etwa Haptik und visuelle Inszenierung. Zweites Beispiel – Fernsehen: Streaming-Portale und Mediatheken bieten natürlich unvergleichlich bessere und individuellere Angebotszugänge als lineare Programme, aber klassisches Fernsehen kann dort punkten, wo es wichtig ist, „live“ dabeizusein, zusammen mit vielen anderen – sei es bei Sportereignissen, Shows mit Zuschauerbeteiligung, Breaking News oder den immer seltener werden TV-Ereignissen, die „man“ einfach gesehen haben muss wie den „Tatort“.
Drittes Beispiel ist natürlich der Kinofilm: Trotz riesigen Fernsehern plus Surroundanlagen in der eigenen Wohnung bietet das Kino weiterhin ein unerreichbares Plus. Nur hier wird aus einem Medienangebot im besten Fall ein immersives Erlebnis, das außerdem physisches Gemeinschaftserlebnis sein kann, wenn man es als Gruppe angeht und zelebriert. Dank Second und Third Screen und Social Media lässt sich zwar auch aus dem heimischen Fernsehabend ein virtuelles Gemeinschaftserlebnis machen, aber ein Nebeneffekt von jetzt schon einem Jahr Corona-Pandemie ist, dass jedem und jeder mittlerweile der Unterschied von virtuellen und echten Kontakten klar ist: Wenn Lockdown angesagt ist, sind virtuelle Begegnungen zwar besser als gar keine, aber das wirkliche Leben ist das nicht gerade.
Die Einzigartigkeit des Kinos lässt sich auf verschiedene Weise ausnutzen, und zwar indem es sich mit Artverwandtem verbündet. Erstens sind dies natürlich, eine mediengeschichtlich nicht gerade neue Erkenntnis, andere Medien. Eine Ahnung, wie so etwas aussehen kann, bot in einem ganz anderen Medienbereich beispielsweise 2019 in Paris das Atelier des Lumières mit seiner begehbaren, immersiven van- Gogh-Inszenierung, die aus einer Ausstellung ein individuelles Erlebnis machte, das letztlich den Regeln eines Spiels folgte. Eine Zukunft des Kinos könnte in Analogie darin bestehen, dass neue immersive Inszenierungen aus der traditionellen Verwandlung von Bildern auf der Leinwand in Bilder im Kopf eine Verwandlung von Leben auf der Leinwand in eigenes, er- und gelebtes Leben ermöglichen.
Zweitens kommen hier auch andere Kultureinrichtungen in den Blick. Zu Beginn der Filmgeschichte war das neue Medium zwar ein Schmuddelkind, dessen Heimat Jahrmarkt und etwas später Ladenkinos waren, nach ein paar Jahrzehnten gab es jedoch ein neues Schmuddelkind, das Fernsehen, das eine angemessene Würdigung der inzwischen erreichten Fortschritte des Films ermöglichte. Film wurde nun immer häufiger als Kulturgut gesehen, es entstand sogar eine eigenständige Filmwissenschaft, und heute ist der Film unbestritten Teil des Ensembles der Künste. Auf den ersten Blick wirkt diese Nachbarschaft vielleicht erschreckend, denn Theater, Opernhaus und Museum als traditionelle Orte der Kunst lassen viele Kinobesucher:innen eher an Kultur von Gestern denken als an aktuelle Medienangebote. Aber abgesehen davon, dass Theater und Museen längst in der Jetztzeit angekommen sind, zeigen viele, wie sich auch das Kino als kultureller Ort etablieren kann – durch zusätzliche Vortrags- und Diskussionsangebote, durch gemeinsame Projekte mit anderen kulturellen Akteuren. Solche Angebote wahrzunehmen, verlangt zwar die heimische Komfortzone zu verlassen, aber es kann sich lohnen.
Die Einbeziehung von Kinos in die allgemeine Kulturförderung wäre eine logische Konsequenz, was zwar angesichts der kommerziellen Ausrichtung fast aller heutigen Kinos irritiert, aber nur so lange man vergisst, dass auch auf dem Kunstmarkt Geld verdient wird. Und mit Konzerten – egal ob Pop oder Klassik. Ebenso wie mit Theateraufführungen, nicht nur beim Boulevard. Die Zukunft des Kinos? Ein sozialer Kulturort, der der ganzen Gesellschaft nützt!
Gerd Hallenberger (Dr. phil. habil.), geb 1953, ist freiberuflicher Medienwissenschaftler. Arbeitsschwerpunkte: Fernsehunterhaltung, allgemeine Medienentwicklung und Populärkultur. Er war schon oft Mitglied von Nominierungskommissionen und Jurys für den Grimme-Preis.
Gerd Hallenberger
Gerd Hallenberger (Dr. phil. habil.), geb 1953, ist freiberuflicher Medienwissenschaftler. Arbeitsschwerpunkte: Fernsehunterhaltung, allgemeine Medienentwicklung und Populärkultur. Er war schon oft Mitglied von Nominierungskommissionen und Jurys für den Grimme-Preis. In seinem Beitrag beleuchtet er aus medienhistorischer Perspektive, wie sich Medienlandschaften verändern, und warum diese Veränderungen für das Kino nicht unbedingt eine Gefahr sondern auch eine Chance darstellen können.