Jörg Taszman: Die Zukunft des Kinos

ONCE UPON A TIME

Wenn früher im Kino das Licht ausging, steigerte sich der Lärmpegel. Wir Kinder freuten uns, wenn sich feierlich der Vorhang öffnete und der Hauptfilm endlich begann. Man lachte schallend, wenn Leinwandhelden sich gegen Filmbösewichter durchsetzen, oder weinte, wenn die „Guten“ starben.

Als ich im Alter von 12, 13 Jahren anfing, ohne Eltern ins Kino zu gehen, hießen die großen Kinos Im Ostteil Berlins Colosseum, Kosmos und International. Dort sah ich FREIBEUTER DER MEERE oder MEIN NAME IST NOBODY, der ab 14 war und in den mich meine Mutter mitnahm. Der Besuch war  erschwinglich, kostete zwischen 25 Pfennig und 1,55 Mark. Das Kino  verzauberte als ein magischer Ort, ein Sehnsuchtsraum, manchmal auch für Verbotenes. Mit 14 zog ich mit  meinen Eltern dann von Ostberlin in einen Pariser Vorort. Ein Ticket auf den Champs-Elysées kostete bis zu 30 Francs. Das konnte ich mir im ersten Jahr nicht leisten.  Dafür gab es in der Schule einen Ciné Club. Jeden Freitag organisierte meine Französischlehrerin 16 mm Kopien von Klassikern wie DIE SIEBEN SAMURAI, TOD IN VENEDIG, NOSFERATU von Herzog oder TANZ DER VAMPIRE.  Ab 1981 – da war ich 15 –  bin ich kinosüchtig.

In Paris gab es wunderbare Kinos wie den großen Saal im UGC Normandie (dort sah ich mitten im Abitur meinen Lieblingsfilm ES WAR EINMAL IN AMERIKA), Le Grand Rex (in Anwesenheit von Christophe Lambert HIGHLANDER), La Pagode oder das L’Escurial in dem ich im September 1984, nach sehnsüchtigen Monaten des Wartens, PARIS TEXAS von Wim Wenders in der allerersten Vorführung sah.

Wenn ich in einer Metropole bin, muss ich dort ins Kino – egal welche Filme sie gerade spielen. Ob das Tuschinski in Amsterdam, das Lucerna in Prag oder das Urania in Budapest.  Ich liebe diese Kinopaläste aus einer vergangenen Zeit.

BACK TO THE FUTURE

Schon lange vor Corona hatten es Kinos in Deutschland schwerer als anderswo. Der Anteil von Arthouse Filmen macht nur 15% aus.  Böse gesagt,  tummeln sich in den Arthouse Kinos „die Alten“, zu denen ich mit 54 Jahren auch gehöre.  Im Branchenjargon nennt man uns höflich „Best Ager“.  Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene der Netflix Generation bis 30 verlaufen sich selten in die gepflegten Arthouse Kinos der Republik.  Sie werden in den Multiplexen kinosozialisiert.

Nur,  wenn Kinos überleben wollen, müssen sie den Kinoraum neu- oder zurück erobern. Der Zauber beginnt im kleinsten Kinoalter. Meine jüngste Tochter war gerade 3 Jahre jung als sie fasziniert und ohne einen Pieps zu sagen DIE EISKÖNIGIN in einem Cineplex sah, weil kein einziges Arthauskino in der Nähe zu flexiblen Uhrzeiten jenseits der 15.00 Schiene Kinderfilme zeigt. Mein 20 jähriger Sohn, der eine amerikanische Mutter hat,  ging – wenn überhaupt – nur in die Multiplexe am Potsdamer Platz. Sein Lieblingskino, das die englischen OV Fassungen zeigte, gibt es nicht mehr.  Warum in einer Weltstadt wie Berlin keiner das Cinestar gerettet hat, das nicht nur während der Berlinale ein Hort für Multikulturalität war, ist ebenso erschütternd und peinlich wie das Ende meines ersten „Kiezkinos“, dem Colosseum. Kino ist in Deutschland nicht Kultur.  Genau aus diesem deutschen Kinobanausentum heraus sind auch alle Initiativen gescheitert, Kino als temporäres Schulfach zu etablieren. FAUST muss man von Goethe lesen. Murnaus genialen „Stummfilm“ brauchen deutsche Schüler dagegen nicht zu kennen.

Genau in dieser Kinokulturlosigkeit liegt aber die Chance für Kinobetreiber. Zeigt Klassiker wie Mélies oder die Filme der Brüder Lumière als Endlosschleifen auf analogen TV Geräten im Foyer. Bietet Unterricht mit den Klassikern im Kino zusammen mit engagierten Lehrern und Lehrerinnen an. Öffnet eure Räume für Kurse für analoge Fotografie. Kauft preiswerte, alte VHS Rekorder und Super 8 Projektoren und zeigt diese analogen Schätze. Wenn Vinyl  und die Musikkassette eine Renaissance erleben, warum nicht VHS oder DVD.  Verleiht Filme auf Kassette oder Disc nach dem Kinobesuch.  Eine Bibliothek lässt sich preiswert und schnell durch gebrauchte Scheiben aufbauen.  Öffnet nicht erst am Nachmittag oder frühen Abend. Macht Starbucks mit besserem Kaffee, besseren Sandwiches und schnellerem,  kostenlosen W-Lan schon ab 9.00 früh Konkurrenz. Home Office mit Frühstück am morgen und Filme von 10.00 früh bis Mitternacht. Stellt euch ausrangierte Kinosessel ins Foyer und legt euch ein paar PS 4 oder X-Box Konsolen zu. Sorgt dafür, dass sich Kids, Jugendliche und Best Ager in euren Kinos wohl und zuhause fühlen.

Und hört auf, an den Messias durch Bond zu glauben. Wenn die US Studios ihre Blockbuster nicht mehr herausrücken, setzt auf  erfolgreiche Filme aus Asien, Russland oder Europa. Geht Kooperationen mit Netflix, Amazon, Disney, HBO, Sky, Mubi, Sooner und den Mediatheken von ARD und ZDF ein. Man kann anspruchsvolle und packende Miniserien wie CHERNOBYL , BODYGARD oder BAD BANKS wunderbar auf euren großen Leinwänden zeigen. Setzt auf exklusive Previews erfolgreicher Serien. Und vor allem hört auf,  die Streamingdienste als Feinde des Kinos zu sehen.  Wer vom europäischen Kino  und seiner Vielfalt schwärmt, kommt an Netflix nicht mehr vorbei. Dort laufen die populären Filme aus Italien, Frankreich, Spanien oder Polen und unter viel Quantität verbergen sich durchaus charmante Arthausperlen. Bleibt neugierig, bleibt offen, reist durch die Welt und geht dort ins Kino. Schaut euch um, wie man es besser machen kann. Bezahlt eure Angestellten und Studenten anständig. Zeigt ihnen regelmäßig eure Filme. Kooperiert auch mit den Multiplexen: Macht einen Mainstream-Abend im Arthauskino und einen Arthouse-Abend im Multiplex.

Die Kinokrise hat viel mit starrem Besitzstanddenken und irrationalen Ängsten vor den Streamern und viel zu viel mit Risikolosigkeit zu tun.  Wagt mit euren Kinos den dauernden Modellversuch, gerade weil das Kinofenster schrumpft. Macht die Kinos wieder zu Palästen der kulturellen und medialen Vielfalt.

Jörg Taszman

geboren 1966 in Magdeburg

aufgewachsen in Berlin (Ost) und einem Vorort in Paris

1985 Deutsch-Französisches Abitur

Studium an der Budapester Filmhochschule von 1988-1991 als Kameramann

Diplomfilm "Bruchstücke" nimmt 1996 an der Berlinale im Forum (Videoprogramm) und beim Filmfestival in Karlovy Vary am Wettbewerb Dokumentarfilm teil

ab 1997 freiberuflicher Journalist und Dolmetscher u.a für DLF Kultur, Radio Eins, MDR-Kultur, epd-film, Jüdische Allgemeine

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