
Europe
Kein Mensch ist illegal? Für die Algerierin Zohra bricht eine Welt zusammen, als sie von einem Tag auf den anderen ihr Visum verliert. Für den Staat existiert sie nicht mehr. Mit letzter visueller Konsequenz versetzt sich Philip Scheffners Filmexperiment in das Innenleben seiner Protagonistin, die vor anderen und sich selbst zur Unsichtbaren wird. Allein in der Fiktion eines „normalen“ Lebens behauptet sie ihren Platz im gesellschaftlichen Raum.
Drama
ab 11. Klasse
ab 16 Jahre
Französisch, Deutsch, Politik, Sozialkunde
Migration, (Post)Kolonialismus, Filmsprache, Einwanderungsgesellschaft, Europa, Grenzen
10.03.2022
Inhalt

Eine erlösende Diagnose beim Arzt scheint Zohras Leben eine neue Wendung zu geben: Ihr lebenslanges Rückenleiden wurde behoben, die komplizierten Operationen waren erfolgreich. Doch das Glück wird für die Algerierin auf brutale Weise zum Bumerang: Nach dem Ende der Behandlung sieht der französische Staat keinen Grund mehr für ihre Aufenthaltsgenehmigung. Mit ihr erlischt Zohras gesamte Teilhabe an einer Gesellschaft, in der sie sich wohlfühlt. Sie hat Arbeit, viele sozialen Kontakt und ein fast schon sonniges Gemüt. Eben noch wollte sie ihren Mann nachholen, um sich inmitten vieler Verwandter etwas Neues aufzubauen. Nun sieht sie sich ihrer Existenz beraubt aufgrund von Regeln, über die andere bestimmen. Von einem besseren Leben kann sie nur noch träumen.
Umsetzung

Zohras Leben im Banlieue einer französischen Kleinstadt ist nicht spektakulär, aber abwechslungsreich. In langen unbewegten, exakt gerahmten Einstellungen zeigt der Film ihre täglichen Wege zwischen Krankenhaus, der Arbeit in einer Kleiderspendensammlung und der Familie ihrer Schwester, um deren Kinder sie sich kümmert. Nach der niederschmetternden Bestätigung ihres erloschenen Aufenthaltsstatus auf dem Amt greift die Regie zu einem unvermuteten filmischen Kniff: Zohra wird vorübergehend unsichtbar und auch unhörbar. Die Reaktionen ihrer Mitmenschen bescheinigen weiterhin ihre Existenz, ohne dass sie noch ins Geschehen eingreifen könnte. Praktisch im Moment, da man diesen erzählerischen Bruch als Bild ihrer verlorenen Selbstwahrnehmung – einem Alptraum nicht unähnlich – realisiert, erfolgt schon der nächste Perspektivwechsel: Nun ist nur noch Zohra sichtbar, die begonnen hat, sich eine eigene Welt zu schaffen. In der Fantasie gelingt ihr das erwünschte Leben, das ihr die äußeren Umstände versagen.
Anknüpfungspunkte für die pädagogische Arbeit

Der deutsche Regisseur Philip Scheffner ist vor allem bekannt für seine minutiösen Rekonstruktionen von Schicksalen Geflüchteter. Sein erster Spielfilm, den er als „erzwungene Fiktionalisierung“ bezeichnet, behält die dokumentarische Perspektive bei und stellt auch ähnliche Fragen: Wo verlaufen die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit? Wieviel Fiktion steckt in unserer Ordnung des öffentlichen Raums, der Auswahl seiner Teilnehmer*innen und damit auch in den selten hinterfragten Konzepten von Nationalstaat und Staatsbürgerschaft? Über diese komplexe politische Dimension hinaus inspiriert der Film aber auch grundsätzliche ästhetische Überlegungen zum kinematografischen Sehen: Die Nicht-Sichtbarkeit erwirkt einerseits die totale Identifikation mit der Hauptfigur, widerspricht andererseits aber eklatant unseren Sehgewohnheiten. Für die glänzende Hauptdarstellerin Rhim Ibrir war diese Identifikation unausweichlich: Die Algerierin, der Scheffner bei den Dreharbeiten zu seinem Film „Havarie“ (2016) begegnete, spielt hier Teile ihres eigenen Lebens.
Veranstaltungen

Wenn Sie Interesse an einer Schulkinoveranstaltung haben, setzen Sie sich bitte mit einem Kino in Ihrer Umgebung in Verbindung. Dort wird man Sie gern beraten. Gern sind wir Ihnen auch bei der Kontaktaufnahme behilflich.
Downloads
FilmTipp_Europe.pdfPhilip Scheffner
Merle Kröger, Philip Scheffner
Rhim Ibrir, Sadya Bekkouche, Hassane Ziani, Zoulikha Ibrir, Marwane Sabri, Thierry Cantin u. a.
105 Min
französische Originalfassung mit deutschen Untertiteln
digital, Farbe
ohne Altersbeschränkung
Grandfilm
Berlinale 2022, Sektion Forum