Jenni Zylka: Die Zukunft des Kinos
„Die das Dunkel nicht fühlen, werden sich nie nach dem Licht umschauen“. Dieses aus dem 19. Jahrhundert stammende Zitat des englischen Historikers Henry Thomas Buckle passt auch zum Kino. Denn dort, im Dunkel des Kinosaals, kann einem ein (echtes wie metaphorisches) Licht aufgehen: Filme erweitern Horizonte. Und öffnen Herzen.
Natürlich könnten sie dies theoretisch auch zuhause tun. Oder in der Bahn - überall, wo man sich das 7x14cm-Handydisplay nah genug vor die Visage hält. Denn in eine Geschichte zu versinken, hat nur begrenzt mit ihrem Darreichungsformat zu tun – ein schwacher Film wird nicht wirklich besser, wenn seine Tonspur im 5.1-System ballert, oder seine Projektionsfläche über 190qm groß ist, wie im Berliner Zoo Palast.
Und dennoch gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Was und dem Wo einer Film-Rezeption. Buckle sprach nicht zufällig vom „Fühlen“ der Dunkelheit: Fühlen ist eine haptische, eine körperliche Erfahrung. Bei einem Kinobesuch beginnt dieses Erleben damit, seinen Körper an einen anderen Ort zu bringen, die – wieder im echten wie übertragenden Sinne – „comfort zone“, namentlich das heimische Sofa, zu verlassen, auf eine Reise zu gehen - noch bevor die designierte Heldenreise beginnt.
Die Bahn als Rezeptionsort würde insofern eigentlich passen – doch sich in wackelnden, hellen, von Fahrgästen und Durchsagen beeinträchtigten Waggons in eine Story zu verlieren, fällt schwer. Zuhause dagegen ist es zwar ruhig – aber die Ruhe und das Dunkel, das man beim abendlichem Laptop-Streamen erlebt, ist ein vertrautes Dunkel, eines dessen Gerüche und Atmosphäre man kennt, das man (vor allem nach einem monatelange Lockdown) kaum noch fühlt. Das Dunkel im Kinosaal dagegen ist fremd, genau wie es die Menschen um einen herum sind, die zur gleichen Zeit das Gleiche erfahren, sehen und hören (und manchmal riechen): Diese kleine, kitzelige Gefahr steigert die Spannung und die subjektive Aufmerksamkeit. Und damit die Empathie für Nöte, Gefühle und Gedanken der Handelnden auf der Leinwand.
Apropos Nöte: Wenn die Kinos wieder öffnen, wird das Publikum nicht von selbst wiederkommen. Manche, vor allem Ältere mit stetig sinkendem Interesse an Sozialkontakten, werden einfach ausbleiben. Sie werden sich weiterhin mit dem breitgefächerten Kulturangebot von VoD, TV und Heimkino zufrieden geben, werden in Flatscreens, Beamer und Streamingdienste investieren. Und mögliche Diskussionen über das Gesehene seltener, vielleicht konzentrierter führen. Andere, Jüngere und/oder Geringverdiener:innen, werden ihre mühsam gesparten Kröten nach der Pandemie erst recht nicht mehr für Multiplex-Kinotickets mit Überlänge-Aufschlag, 3D-Brillengebühr und sechs Euro pro Popcorneimer (salzig) ausgeben.
Darum sollten die Kinos den ersten Schritt machen, um das Publikum zurück zu erspielen. Die Rechnung mit den parallel in mehreren Sälen laufenden Blockbustern kann, darf und wird nicht mehr aufgehen. Stattdessen müssen auch große Kinos kuratieren: Sie müssen individuelle Programmarbeit leisten, Events veranstalten, Crew und Cast einladen, Gespräche anbieten. Und handverlesene Reihen zeigen - den neuen Bond mit einem Expert:innen-Gespräch oder einem Vortrag rahmen, zu „Die dunkle Triade bei Bond“ oder „Sexismus bei den Broccolis“ oder „Das Prä-Bond-Werk von Phoebe Waller-Bridge“. Natürlich wird nicht jeder Gast bis zum Ende des Abends bleiben und danach für feministische Filmtheorie brennen. Aber ein paar schon – und die Erfahrung mit Lichtspielhäusern in kleineren Städten zeigt, dass die Kinos dort noch viel mehr als sozialer Raum genutzt werden, als in polyvergnüglichen Metropolen mit ihren stets ausgebuchten und abgelenkten Bewohner:innen. Die digitale Projektion kann (so wie es bereits bei „kleinen“ special interest-Filmen im VoD-Bereich passiert) eine Chance sein, auch spezielle Themen überallhin zu bringen, unabhängig von Stadtgröße und Kopieanzahl.
Die Wissensvermittlung durch Schulen mit ihren mal suffizienten, mal katastrophalen Homeschooling-Programmen hat während der Pandemie gelitten. Dennoch muss das Thema Film als Kulturform stärker in den Unterricht und die Kinderbetreuung integriert werden: Angefangen mit einfachen Möglichkeiten für Schüler:innen-Kinobesuche bei lokalen Festivals, bis hin zu Informationen zur Filmfinanzierung, die genauso in jeden Gesellschaftswissenschaften-Kurs gehören wie die Lehre der politischen Systeme. Denn wieso sollten Schüler:innen, die definitiv alle schon mindestens einmal einen Film oder eine Serie geguckt haben, nicht zumindest in Ansätzen lernen, welcher Teil der Kinokarte oder des Streaming-Abos tatsächlich bei den Filmschaffenden ankommt, wie lange es dauert, bis sich ein Film – egal ob Marvel oder französisches Indie-Kino – refinanziert hat, und wofür die Budgets von Fernseh- und Kinofilmen benutzt werden? Dem Respekt für Filme, und vor allem dem im Filmerlebnis innewohnenden gesunden Eskapismus wird das keinen Abbruch tun, im Gegenteil. Wenn man den Kids dann auch noch steckt, dass man im Kino besser und ungestörter knutschen kann, als im (hellen kalten) Park oder im Teeniezimmer neben dem Elternbüro, müsste das doch überzeugen.
Das US-Studiosystem, aus dem die Blockbuster inklusive der sie umgebenden Mainstream-Industrie entstanden, wurde nach der verheerenden Spanischen Grippe-Pandemie vor 100 Jahren geboren – als Maßregelung unabhängiger Kintopp-Künstler:innen, die ihre Werke frei in privat geführten Kinos präsentierten. Vielleicht ist diese vermaledeite Corona-Pandemie eine Möglichkeit, das Kino und seine Inhalte wieder unabhängiger zu machen, ihm wieder – genau wie Kunstausstellungen – eine individuelle Note zu geben. Der momentane Streit um verschobene Film- und VoD-Starts zeigt, dass die auf den US-Markt konzentrierte Programm-Globalisierung keinen Sinn macht. Überhaupt: Wer sagt denn, dass man nur neu erschienene Filme besprechen, diskutieren und lieben kann? Angesichts eines anachronistischen Frauenbilds des aktuellen „Wonder Woman 1984“, der eine Frau aus reinem Neid gegen eine andere, vermeintlich „hübschere“ antreten lässt, muss man das mit der Modernität eh nochmal eruieren. Hätte man ihn gemeinsam mit den Freundinnen im Kino gesehen – man hätte sich danach auf dem Nachhauseweg wenigstens den Frust wegtrinken können.
Geheimagentin Jenni Zylka ist Film-, Musik- und Medienautorin (u.a. Spiegel, taz, Tagesspiegel, Freitag), Kulturkommentatorin beim RBB, MDR und Deutschlandradio, schreibt Bestseller und Drehbücher, kuratiert die Filmauswahl für die Sektion Panorama der Berlinale, ist Jurorin beim Grimme-Preis, moderiert Filmgespräche und Pressekonferenzen für u.a. die Berlinale, das Filmfest Emden und das Filmfest Dresden, prüft Fernsehinhalte für die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen FSF, schreibt für den Medienwatchblog Altpapier, und unterrichtet Journalismus an der Akademie für Mode und Design (amd) Berlin.
Jenni Zylka
Geheimagentin Jenni Zylka ist Film-, Musik- und Medienautorin (u.a. Spiegel, taz, Tagesspiegel, Freitag), Kulturkommentatorin beim RBB, MDR und Deutschlandradio, schreibt Bestseller und Drehbücher, kuratiert die Filmauswahl für die Sektion Panorama der Berlinale, ist Jurorin beim Grimme-Preis, moderiert Filmgespräche und Pressekonferenzen für u.a. die Berlinale, das Filmfest Emden und das Filmfest Dresden, prüft Fernsehinhalte für die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen FSF, schreibt für den Medienwatchblog Altpapier, und unterrichtet Journalismus an der Akademie für Mode und Design (amd) Berlin.
In ihrem Beitrag plädiert sie für ein kuratorisch unabhängiges Kino als Ort der Rezeption, Diskussion und Begegnung. Ihr Text ist auch eine Liebeserklärung an die Dunkelheit und die Haptik des Kinos, die uns anders als das Streaming auf dem heimischen Sofa buchstäblich dazu bringt, unsere Komfortzone zu verlassen.