60 Jahre Anwerbeabkommen mit der Türkei: Von Gastarbeiter*innen zu Mitbürger*innen — Lebensrealitäten im deutschen Film
Das Anwerbeabkommen zur Entsendung von Arbeitskräften aus der Türkei nach Deutschland, das vor 60 Jahren unterzeichnet wurde, und die Migration türkischer und kurdischer Menschen haben die deutsche Gesellschaft und ihr Selbstverständnis verändert. Die zunächst gängige Bezeichnung der “Gastarbeiter*innen" drückte in Politik und Gesellschaft die Vorstellung aus, dass die angeworbenen Arbeitskräfte eines Tages wieder in die Türkei zurückkehren würden. Doch viele Menschen blieben und prägten die Bundesrepublik wirtschaftlich, gesellschaftlich und kulturell – so auch das deutsche Kino, insbesondere ab den 1990er Jahren.
Unser Sonderprogramm vereint Filme von Regisseur*innen aus der zweiten und dritten Migrant*innengeneration. Sie zeigen Geschichten des Alltags, Familien- und Herkunftserzählungen, berichten von Zugehörigkeit und Ausgrenzungserfahrungen und beleuchten Fragen der eigenen Identität. Die Filme finden Bilder für eine Migrationsgesellschaft, in denen monokulturelle Zuschreibungen von außen auf das transkulturelle Selbstbild der Protagonist*innen treffen – zugleich zeigen sie auch, dass Marginalisierung und Mehrfachdiskriminierung den deutsch-türkischen und deutsch-kurdischen Alltag noch immer begleiten.
Ein Filmprogramm der Vision Kino gGmbH und der Bundeszentrale für politische Bildung, gemeinsam kuratiert mit der Filmwissenschaftlerin und Regisseurin Canan Turan.
In Zusammenarbeit mit der
Bundeszentrale für politische Bildung
Die Filme des Programms
Almanya – Willkommen in Deutschland (empf. ab ab Klasse 6, Regie: Yasemin Şamdereli, D. 2011, 101 Min.) Als Tragikomödie mit vielen surrealen Exkursen und liebevollem Augenzwinkern inszenieren die Schwestern Yasemin und Nesrin Şamdereli das Ankommen einer türkischen Familie im Deutschland der 1960er Jahre, das plurale Hier und Jetzt ihrer drei Generationen sowie Fragen kultureller Identität, die nicht auf Herkunft reduziert werden.
Mein Vater, der Gastarbeiter (empf. ab 13 Jahre, Regie: Yüksel Yavuz, Deutschland 1995, 52 Min.) Der deutsch-kurdische Regisseur Yüksel Yavuz erzählt in seinem Dokumentarfilm "Mein Vater, der Gastarbeiter" von der Migrationsbiografie seines Vaters, der zwischen 1968 und 1984 als Schweißer in einer Hamburger Werft arbeitete. Während er nach 16 Jahren wieder in die Türkei zurückkehrt, haben viele Arbeiter*innen ihre Heimat zunehmend auch nach Deutschland geholt, und das einstige Land der Arbeit wird zum Land der Enkelkinder. Der Film erzählt, wie die Erinnerungen an die Türkei und die Erfahrungen in Deutschland die Biografien auch der neuen Generationen prägen.
Geschwister – Kardeşler (empf. ab 14 Jahre, Regie: Thomas Arslan, Deutschland 1997, 84 Min.) Thomas Arslan folgt in "Geschwister - Kardeşler" drei deutsch-türkischen Jugendlichen - ganz im Stil der Berliner Schule - leicht beobachtend auf ihren Streifzügen durch Kreuzberg. Dabei schafft er ein feines Porträt der Geschwister in ihrem transkulturellen Alltag und in ihrer jugendlichen Identitätsfindung.
Gegen die Wand (empf. ab 14 Jahre, Regie Fatih Akın, Deutschland 2003, 121 Min.) Eine Liebesgeschichte zwischen zwei Außenseiter*innen, die ihr exzessives Dasein zwischen Selbstzerstörung und Lebenshunger, Zerrissenheit und Selbstfindung, verbindet. Fatih Akın gewann 2004 auf der Berlinale für seine bahnbrechende Liebesgeschichte „Gegen die Wand“ den Goldenen Bären.
Spuren – Die Opfer des NSU (empf. ab Klasse 10, Regie: Aysun Bademsoy, Deutschland 2019, 81 Min.) Zwischen September 2000 und April 2007 wurden in Deutschland zehn Menschen von der rechtsextremen Terrorgruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) ermordet, darunter acht Männer mit türkischen Migrationsbiografien. Der Film "Spuren- Die Opfer des NSU" dokumentiert, wie die Familien und Freund*innen versuchen, mit dem schmerzhaften Verlust geliebter Menschen und den jahrelangen Ermittlungen umzugehen und insbesondere das Andenken an die Opfer lebendig zu halten.
En Garde (empf. ab 13 Jahre, Regie: Ayşe Polat, Deutschland 2004, 94 Min.) „Du wirst es hier mögen, du musst es mögen“ kriegt Alice zu hören, als sie von ihrer Mutter in ein Erziehungsheim gebracht wird. Die 16-Jährige fühlt sich überfordert, einsam und findet keinen Anschluss, außerdem werden Geräusche in ihrem Umfeld unerträglich. Beim Besuch bei einer HNO-Ärztin lernt sie Berivan kennen, die ebenfalls im Erziehungsheim lebt. Sie werden Freundinnen und erleben gemeinsam eine Achterbahn an Gefühlen und Abenteuern.